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Lehmann

12. August 2006 von Ulla & Rike

Wer ist Lehmann? Lehmann ist … nein war der Weggefährte meiner besten Freundin Tanne. Sie hat aufgeschrieben, wie sie zusammen in ihren ersten gemeinsamen Urlaub starteten. Es sollte ihr einziger bleiben …

Ich sortiere schnell noch meine eigenen Urlaubsfotos
und wünsche viel Vergnügen beim Lesen.
Rike

 

21.07.2005
Lehmann

Ich bin erschöpft.
Bin in Nürnberg angekommen.
Aber wie?
Aber wie!

Ich muss nachher meine Eltern anrufen und sie darauf hinweisen, dass sie ihre ureigensten Produkte, die sie auch noch mutig an Bedürftige verborgen, nicht wirklich kennen. Als Entschuldigung kann ich nur gelten lassen, dass meine lieben Alten reineweg mit dem Auto unterwegs sind.

Warum?

Man stelle sich folgende Konstellation vor: Ich sitze inmitten von 127 Taschen bwz. Koffern in einem Café und würde eigentlich lieber rumwuseln und von Geschäft zu Geschäft hüpfen. Aber auch das wäre mit vielen, aber funktionalen Koffern zu handeln. Wäre da nicht das Kernstück meines Gepäcks: mein KOFFER.

Ahnungslos wie ich war, hatte ich meine Eltern gefragt, ob sie nicht einen adäquaten für mich hätten. Das Schicksal nahm seinen Lauf: sie sagten „Ja.“

Nennen wir den Koffer im folgenden doch einfach „Lehmann“.
Lehmann trat gestern in mein Leben.

Sah er auf den ersten Blick harmlos aus, entpuppte er sich bereits in meinem Hausflur als wahres Auffangbecken für all meine Flüche und Verwünschungen, die mir so am frühen Morgen einfielen. Zu spät. Der Weg zum Bahnhof zu weit, um flexibel reagieren zu können. Zu spät, um in einem Anfall von Kreativität ein ausweichendes Modell für all meine nützlichen und sicher auch vollkommen überflüssig eingepackten Sachen in den unendlichen Tiefen meiner Schränke zu finden.

Ich hatte also Lehmann.
Oder besser gesagt, er hatte mich.
Vom Prinzip her nur ein Koffer.
Ja. Ein Koffer.

Eben so, wie man sich einen Koffer vorstellt: ein Stoffvehikel mit einem Henkel, einem Griff zum Ziehen und Rädern. Theoretisch ein ausgefeiltes Produkt des neuen Jahrtausends. Aber wie so oft liegt der Teufel im Detail: Lehmann erwies sich als penetrant unanständig.

Zog ich ihn zügig, kam er ins Schlingern. Zog ich ihn langsam, kam ich zum einen nicht von der Stelle (was ja nicht wirklich in meinem Sinn sein konnte) und zum anderen kippte er dann einfach langsam zur Seite. Er passte sich also in seiner Fallgeschwindigkeit einfach meiner Zugkraft an. Dass er fiel, stand nicht zur Debatte.

Ich bin flexibel. Daher kam mir der Gedanke (da die Zugkraft ja offensichtlich nicht zum Miss- oder Gelingen eines zügigen Vorwärtskommens beitrug), die Zughöhe zu variieren. Zunächst schlich ich mit leicht gebeugtem Oberkörper und witterte Rückenwind. Zu früh gefreut: der Bordstein war hoch und Lehmann fiel mit der gesamten v=s·t auf die Huckelpiste Berlins.

Dies war der erste Moment, in dem ich Lehmann Gewalt antat: Ich holte mit meinem Bein aus und trat ihn unter dem Gebrauch gebräuchlicher Schimpfwörter mitten in die Weichteile. Aber Lehmann rührte sich nicht. Ich erhielt ein Feedback aus vollkommen anderer und unerwarteter Richtung: Es fing an, in Strömen zu regnen.

Meine Laune sank weiter in den Keller. Hatte ich mich nicht zwei Stunden zuvor aus meinem Bett gekämpft und in mein goldglänzendes Haupthaar Heizlockenwickler gedreht?! Die Pracht war dahin. Meine Selbstbeherrschung auch. Aber da ich die Gene einer Kampf-Teutonin mein eigen nenne, wuchs in mir der Ehrgeiz, eine Strategie für Lehmann zu finden.

DER Lehmmann.
DER Koffer.
Auf einmal hatte ich nicht mehr das „Problem Koffer“ zu lösen.
Nein. Es drehte sich um mehr. Es drehte sich um alles.
Es ging um den Kampf der Geschlechter.
Um den Sieg Mann gegen Frau.

Scheinheilig lächelnd bückte ich mich zu Lehmann herab und gurrte förmlich in seine Richtung: „Komm, mein Schatz, der Weg ist noch weit. Und der Zug wartet nicht auf uns.“ Ich stellte Lehmann in die theoretisch (!!) optimale Rollausgangsposition auf den Bordstein. Ich stellte mich neben ihn auf die Straße und rollte mich mit meinem Oberkörper leicht ein. Ein Auto kam und ich fand mich fast überraschend drunter.

Ich sagte nichts, lächelte nur wissend und ging zum Angriff über: Schritt für Schritt, von langsam zu schnell. Die ersten fünf Schritte verhielt sich Lehmann vollkommen kofferkonform. Er tat das, was man von einem Koffer durchaus erwarten kann: Lehmann ließ sich willig hinter mir her ziehen.

Neben meiner Freude kamen mir aber bereits die ersten sorgenvollen Gedanken. Ich hatte zwar meinen Koffer gezähmt, würde aber spätestens in 100 Metern Rückenschmerzen oder einen steifen Nacken mein eigen nennen können, da ich neben Lehmann noch einen schweren Rucksack mit diversen Schuhpaaren daran baumelnd, meine Laptoptasche und mein rosa Handtäschchen zu meinem Gepäck zählen konnte.

Hatte ich nicht eigentlich noch gestern am Telefon behauptet, nur das Notwendigste mitnehmen zu wollen?! Nur Wanderklamotten und Joggingsachen? Ich erinnerte mich grau, in der Nacht diverse Röcke, Blusen, Schuhe in meinem Koffer gesehen zu haben. Ich fragte mich ängstlich, wie wahrscheinlich es eigentlich ist, eine achtstündige Wanderung in einem luftigen rosa Röckchen und mit einer Bluse, die eigentlich ein Hauch von Nichts ist, zu machen. Ich schäme mich. Vielleicht remonstriert Lehmann ja auch zu Recht? Er war ja anwesend bei meinem Plan, nur Minimalgepäck zu laden.

Aber wer gesteht sich schon Fehler ein.
Ich jedenfalls nicht.

Nun hatte ich also Oberwasser. Und außer meinem Problem, mir in Gedanken schon einen Termin bei einem Physiotherapeuten besorgen zu müssen, hatte ich das Gefühl, eine Strategie für Lehmann gefunden zu haben. Spätestens an dieser Stelle hätte ich misstrauisch werden müssen. In der Welt lässt sich Männliches, sei es nun ein Gegenstand oder ein menschliches Wesen, nicht so einfach bezwingen. Zumindest nicht in meiner.

Ich hatte nicht einmal 50 Meter geschafft, da meldete sich Lehmann erneut. Zuerst fühlte ich es ganz sachte am Griff: ein leichtes Vibrieren, welches sich schrittweise zu realem Schlingern entwickelte. Und als ob dass noch nicht genug wäre, erhöhte sich der Schwierigkeitsgrad von Sekunde zu Sekunde. Jetzt hieß es nicht mehr nur ganz sachte geradeaus zu fahren. Nein. Durch den Platzregen hatten sich diverse Pfützen gebildet, die sich für Lehmann und mich zu unüberwindlichen Hindernissen aufbauten.

Zunächst versuchte ich das Vibrieren zu ignorieren und zog große Kurven um die jeweilige Pfütze. Da ich ein stolze Größe von 183 Zentimetern mein eigen nennen kann und ich durchaus proportional gebaut bin, habe ich relativ lange Arme, so dass ich in der Lage war, den Schwenkradius um die Wasserlachen immer weiter zu erhöhen. Angstvoll stellte ich fest, dass der Weg zum Bahnhof auf diese Art und Weise wohl das Doppelte vom Üblichen betragen würde. Im Laufe der zurückgelegten Meter musste ich beginnen abzuwägen: die Gefahr in Kauf zu nehmen, dass Lehmann wieder fiel oder einen leicht nassen Koffer zu haben.

Ich neige zum Pragmatismus: ich wählte die zweite Alternative.
Lehmann wurde nass.
Und Lehmann fiel.

Ich war fertig. Ich holte erneut aus und trat Lehmann nun laut und deutlich fluchend. Womit hatte ich das verdient? Mich überholten Rentner, Einbeinige, Blinde … In meiner Phantasie sah ich bereits einen 80jährigen, der sich an mich wendete, um mich zu fragen, ob er mir über die Straße helfen könne. Ich hätte „Ja!“ gesagt …

Und mein Zug würde ohne mich fahren. Und der nächste würde erst in Stunden fahren. Und ich hätte keine Platzkarte und ich müsste stehen und … und überhaupt: ich muss erstmal eine rauchen. Ok. Lehmann kann man nicht ziehen. Aber man kann auf ihm sitzen. Zum Glück habe ich so viel eingepackt. Er ist dementsprechend stabil. Ich sitze auf ihm, zweihundert Meter von meiner Wohnung entfernt und mache meine erste Rast.

Hatte ich schon erwähnt, dass ich mitten auf einer von Fußgängern gut frequentierten Straße sitze? Ungläubige, wertende Blicke treffen mich. Ja, glotzt ruhig! Ich sitze gerne im Regen mit hundert Taschen auf einem Koffer inmitten von Berlin! Macht man das nicht so?! Übrigens ich komme vom Dorf. Da hat man keinen Bahnhof und da kann einem so was nicht passieren.

Meine Blicke schwenken nach vorne. Ein Müllauto steht nur zwanzig Meter von mir entfernt. Die beiden Fahrer sitzen im Trockenen und schauen mich an. Sie grinsen. Haben wohl meinen bis hierher zurückgelegten Weg verfolgen können. Ich setze den hilfsbedürftigsten Blick auf, den ich kann. REAGIERT doch bitte! Wäre es denn zuviel verlangt, das warme und trockenen Fahrerhaus zu verlassen, um im strömenden kalten Regen einer kleinen Frau mit einem großen Problem zu helfen?

Ganz offensichtlich: JA.
Nun gut. Dann eben nicht. Ich schaff das schon.
Berlin ist eben und hat keine Berge. Ich kann den Ostbahnhof schon sehen.
Am Horizont. Relativ klein.

Ich muss Meter schaffen. Ich greife durch und fasse Lehmann am Griff und schleppe ihn mehr als ich ihn trage. „Und bist du nicht willig, gebrauch ich Gewalt!“ Die Entschlossenheit reicht immerhin bis zur nächsten Laterne.

Es geht einfach nicht. Das eine Paar Schuhe im Koffer ist offensichtlich zu viel für meine Muskelkraft. Durchweg fluchend zerre ich Lehmann hinter mir her. Ich schleife ihn förmlich seitlich neben mir her. Ich ignoriere ihn. Nein, er gehört nicht zu mir. Und ich mag ihn nicht. Und er ist unpraktisch. Und ich kann nicht ohne ihn aber auch nicht mit ihm. Wie Mann und Frau eben. Die Wut lässt Kraft in mir wachsen.

Nur noch ein Hindernis liegt zwischen mir und meinem Ziel: die befahrene vierspurige Straße, deren Fußgängerampel viel zu weit weg ist, als dass sie als erleichternde und mir vor allem zeitgebende Alternative zur Wahl stehen würde. Da macht sich meine Mutter Gedanken, dass mir etwas paasieren könne, so allein in den Bergen umherwandernd. Dabei schaffe ich es wahrscheinlich nicht einmal bis zum Bahnhof.

Panik kommt in mir hoch. Um die Straße überqueren zu können, ist ein gewisses Tempo Grundvoraussetzung. Auch eine Rast wäre unmöglich. Man stelle sich vor: auf einer Hauptstraße sitzt mittendrin eine verzweifelte Frau auf ihrem Koffer und raucht panisch. Ob das wohl eine Zeile in der Zeitung wert wäre? Wohl eher eine Anzeige bei der örtlichen Polizeiwache samt anschließender Sicherheitsverwahrung.

Wunder.
Sie geschehen.
Eine männliche Stimme taucht in meinem Rücken auf: „Kann ich ihnen helfen?“
Ja. Bitte. Gleich hier und sofort.

Ich sitze auf dem Bahnsteig. Mein Zug kommt in fünf Minuten. Ich muss erstmal eine rauchen.

Frauen und Koffer sind ein Phänomen. Sie stopfen sie voll und sind dann überfordert. Frauen und Männer nehmen sich auch nichts: sie stopfen sich gegenseitig mit Vorurteilen voll und werden dann doch immer wieder überrascht.

Ich werde Ulli fragen, ob sie nicht einen anderen Mann, oh Pardon, einen anderen Koffer hat.

 

Tanne.

 

03.12.2005
Nachtrag

Meine Mutter rief mich letzte Woche an. Meine Eltern haben Lehmann entsorgt. Er hätte seinen Dienst getan. Habe ein schlechtes Gewissen. Hat mein – auch meinen Eltern gegenüber – artikuliertes Geschimpfe über Lehmann sein Leben verkürzt?

Ich werde Lehmann auf alle Fälle nicht vergessen.
Machs gut. Da oben im Kofferhimmel …

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